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Positiv? Kein Thema. Oder?

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Alle sind mit ihren Anliegen bei uns willkommen!

ZEHN JAHRE.

Das ist die Zeit, die vergangen ist, seit ich die Münchner Aids-Hilfe verlassen hatte. Anderthalb Jahre hatte ich als Psychologin an der psychosozialen Beratungsstelle mitgearbeitet. Erfüllende, aufregende anderthalb Jahre, in denen ich mich hier ganz zu Hause gefühlt habe. Und nun bin ich also wieder zurück, mit einigen Falten mehr und freue mich über alles, was ich wiederfinde. Meine geliebten Kolleginnen und Kollegen, das geliebte blaue Haus, meine geliebten Klientinnen und Klienten, sehr zu meiner Freude treffe ich die Treuesten von ihnen wieder an. Ja und dann ist da noch der Grund, warum wir alle hier sind: HIV. Was ist eigentlich damit passiert, seit ich weg war?

Aufgrund der geringen Nebenwirkungen beginnen HIV-Infizierte heute sofort mit der Therapie und profitieren ohne Verzögerung von ihrem umfangreichen Nutzen. Das erhält nicht nur die Gesundheit, sondern wirksam behandelte HIV-Infizierte können das Virus auch ohne Kondom nicht mehr auf Andere übertragen. Was bedeutet es also heute, HIV-infiziert zu sein? Man muss täglich Medikamente einnehmen, gut, aber abgesehen davon ist doch alles ganz normal? Die Lebenserwartung, die Leistungsfähigkeit, man steckt niemanden an, kann auf natürlichem Weg Kinder zeugen und zur Welt bringen, ist doch alles bestens, wir können alle nach Hause gehen. ODER?

Ist es nicht gerade diese Erwartung, die es HIV-Positiven heute schwerer macht, sich mitzuteilen, sei es nun im Freundeskreis oder auch gegenüber uns Psycholog_Innen? Ich mache die Erfahrung, dass die Betroffenen mit denselben Problemen zu kämpfen haben wie eh und je – und neue kommen hinzu. Das Kondom wirkt nicht nur gegen die Weitergabe der HIV-Infektion, sondern auch gegen die Angst vor der Weitergabe. Und die haben nicht nur die Sexpartner, sondern auch und gerade die Positiven selbst. Darf das Kondom wegfallen, so heißt das noch lange nicht, dass die Angst gleich mit verschwindet. Und zwar auf beiden Seiten. Nur erwartet wird es eben nun.

Auch heute bleibt schwer, von der eigenen HIV-Infektion zu erfahren, und dabei ist der medizinische Aspekt noch der Unproblematischste. Das Virus bleibt ein Leben lang erhalten und kennzeichnet für immer als HIV-positiv, das endgültige Ende einer zuvor oft als selbstverständlich erlebten Unversehrtheit. Und wem gelingt schon leicht, sich selbst auch mit Makel zu lieben? Weiterhin erlebe ich, dass ein schon vorher bestehender negativer Bezug zu sich selbst anlässlich der Infektion erst so richtig zum Ausbruch kommt. HIV bietet einen „idealen“ Aufhänger für Selbsthass, der Umgang damit ein „ideales“ Ventil für Destruktivität sich selbst gegenüber.

Und was ist aus Diskriminierung und Stigmatisierung HIV-Positiver geworden? Befremdet stelle ich fest, dass die Zeit auf diesem Gebiet stehengeblieben sein muss – bestenfalls. Nehmen wir allein den öffentlichen Raum: Gegen alle Rationalität werden z.B. HIV-Infizierte bei Polizei und Bundeswehr nicht uneingeschränkt eingesetzt, existieren ANST-Vermerke in Polizeidatenbanken, gibt es Fälle von Diskriminierung im Gesundheitssystem etc. etc. Die Frage: Wem sag ich´s wann? ist heute nicht leichter zu beantworten als vor zehn Jahren. Das hart erkämpfte Mitgefühl und die Solidarität in der Bevölkerung sind nicht mehr selbstverständlich, mit sinkender Brisanz ist Aufklärungsarbeit wieder schwieriger geworden. Als Folge sehen wir vermehrt Betroffene, die ihre Infektion als individuelles Schicksal verarbeiten: HIV wird zur Privatangelegenheit.

HIV, einst mächtiger schwarzer Herrscher unter den sexuell übertragbaren Infektionen, musste dank des medizinischen Fortschritts eine Entmachtung hinnehmen und wurde wenn nicht in dieselbe Reihe, so doch in die Nähe verwiesen zu alten Bekannten wie Syphilis, Tripper, Gonorrhoe, Chlamydien. Nur konsequent, dass die MüAH anders als vor zehn Jahren ihr Testangebot auch auf diese Infektionen erweitert hat. So sehr ich das alles begrüße, so wichtig ist mir doch festzuhalten, dass das nur die medizinische Seite von HIV betrifft. Was übrigbleibt, sind die Wirkungen der Infektion auf die Psyche und auf das Verhältnis zu den Mitmenschen. In der Fachpresse muss ich lesen, dass 75% der HIV-Infizierten unter psychischen Störungen leiden, dass bei etwa einem Viertel schwere Depressionen vorliegen, dass die Suizidrate über der von Krebspatient_Innen liegt.

Gemeinsam haben mein psychologischer Mitstreiter Christopher Knoll und ich beschlossen, dass es Zeit ist, unser psychologisches Angebot an der Beratungsstelle mal wieder eigens sichtbar zu machen. So haben wir einen Flyer verfasst, der demnächst möglichst vielen Menschen in die Hände geraten soll. Unsere Botschaft: Alle Betroffenen, Angehörige, Freundinnen und Freunde HIV-Infizierter sind mit all ihren Anliegen bei uns willkommen, auch heute noch und heute erst recht.

Daphne Cisneros, Dipl. Psychologin